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Von kleinen Welten und großen Herzen
Der erste Blick auf das florale, in lichte Farbtöne getauchte Coverbild überrascht: Wer Laura Totenhagen kennt, der weiß, dass die in Köln lebende Sängerin und Komponistin weder das Wesen einer arabesken Blumengötze besitzt noch irgendeine Art von Filtern nötig hat. Gemeinsam mit ihrer Band, bestehend aus Leif Berger (Schlagzeug), Felix Hauptmann (Piano) und Stefan Schönegg (Kontrabass), steht sie für einen modernen Jazz mit lyrischer Komponente und elegant arrangierten Klanggebilden. Ihr erstes Album, „Foliage“, erschien 2017 und machte die Band deutschlandweit bekannt. „Was für eine Stimme, fein, diskret, intim“, schrieb Ulrich Stock (Die Zeit), „Laura ist High End“. Mit ihrem neuen Album geht das Quartett diesen Weg kunstfertig, schnörkellos und das spielerisch beeindruckend vielschichtige Repertoire der Band ausschöpfend konsequent weiter.
„Yonic“ heißt das zweite Studio-Album des Quartettes Totenhagen, welches ausschließlich aus Eigenkompositionen besteht. Yonic ist das Adjektiv des tantrischen Begriffs Yoni, der in der Gedankenwelt der vier Musiker vorrangig als Klang/Quelle/Ursprung/Schöpfung eine Bedeutung erhält. Es geht in dem Album um die Stellung des Menschen in der Gesellschaft, um Illusionen und Alltäglichkeiten und, ja, um die Sichtbarmachung und Überwindung gegensätzlicher Prinzipien.
Fünf der neun Songs sind Vertonungen von Texten der chinesischen Dichterin Shu Ting (Track 1, 2, 3, 4 und 7). Desweiteren sind auf dem Album eine Shakespeare- Vertonung des Songs „Sigh No More“ aus „Much Ado About Nothing“ (6), eine von Yehuda Amichai „A Man In His Life Has No Time“ (5) und zwei Eigenkompositionen mit den Titeln „Ode To A Goat“ (8) und „Noabo“ (9) zu finden.
Gerade die Gedichte von Shu Ting liegen der Sängerin am Herzen. Shu Ting (geb. 1952) gilt als eine der wichtigsten chinesischen Dichter*innen im Nachgang der Kulturrevolution, ihre Werke erhalten im Hinblick auf die derzeitigen Bewegungen in der Heimat der heute noch lebenden Künstlerin eine neue Prägnanz. Shu Ting begann als junges Mädchen, nachdem sie gemeinsam mit ihrer Familie aus politischen Gründen in die Provinz verband worden war, nahezu ohne Schulausbildung mit ihren Tagebucheintragungen; viele ihrer Schriften sind in Phasen entstanden, in denen es keine Möglichkeit der politischen Meinungsäußerung gab. Laura hat sich bei der Auswahl der Texte viel Zeit genommen und ehrlich wie nie zuvor darauf geachtet, was die von der Dichterin gewählten Worte in ihr bewirken. Unter den ausgesuchten Texten sind immer wieder solche, in denen Shu Ting starke Naturmetaphern nutzt, um Menschen, Meinungen, Zustände und Orte zu beschreiben, zu hinterfragen oder versteckt zu kritisieren. Eben hierin liegt die Verbindung zur Wahl des Totenhagenschen CD-Covers und des Titels, in dem das kelchartige, bisweilen kitschig wirkende Szenario die Möglichkeit zur Kritik impliziert.
Einer der besonders schönen Titel ist „Gifts“. Bereits bei den ersten Worten, den stehenden Akkorden und rauschenden Wirbeln entsteht eine Atmosphäre, bei der der innerliche Blick des Zuhörers wie von Zauberhand in die wogende Krone eines Baumes und den darüber liegenden Himmel wandert. Jäh wird das idyllische Setting immer wieder unterbrochen, von ansteigenden Resonanzräumen und schärferen Geräuschanteilen unterwandert. Stets im Fluss ist das Spiel des Schlagzeugers Leif Berger, der mit seinen Einwürfen das gesungene Wort kommentiert und hinterfragt. „My dream is a dream of a pond / Not just to mirror the sky / But to let the willows and ferns / Suck me dry.“ Man spürt in diesen Momenten die intensive Auseinandersetzung jedes einzelnen Bandmitglieds mit freien, improvisierten Strukturen und die individuell frische, eigene Sicht, die auf dem Nährboden eines blinden Vertrauens innerhalb der Band die Musik wachsen lässt.
Ähnlich intensiv ist der Song „Fairy Tales“, der im chinesischen Originaltitel übersetzt werden kann als „Märchenerzähler“. Der untergründig morbide Stil des Textes und die schwebende Atmosphäre werden von Laura mit der zarten, melancholisch schimmernden Stimme einer Märchenerzählerin gesungen. Leif Berger, Stefan Schönegg und Felix Hauptmann folgen den Worten ideenreich, hoch emotional und flexibel mit eigenen Ideen. „The world may be tiny but the heart’s enormous”.
Insgesamt ist “Yonic” ein Album, das im Zusammenwirken mit unterschiedlichsten Stilistiken und Mitteln ungewöhnliche Assoziationen beim Zuhörer weckt. Mal schmeichelnd und erschütternd, mal an der Oberfläche verweilend und doch in die Grundfeste gehend, mal träumerisch und doch sehr wach klingt die Musik, mit der das Quartett das Fenster in eine kleine, mystische Welt zu öffnen versteht. Und an dessen Ende die Erkenntnis steht: Selten ist etwas wirklich so, wie es auf den ersten Blick scheint.
(Anke Steinbeck)
Laura Totenhagen (Stimme)
Felix Hauptmann (Piano)
Stefan Schönegg (Kontrabass)
Leif Berger (Schlagzeug)
1) Assembly Line (Text: Shu Ting, Komposition: Laura Totenhagen) 03:38 min
2) Gifts (Text: Shu Ting, Komposition: Laura Totenhagen) 06:09 min
3) Maple Leaf (Text: Shu Ting, Komposition: Laura Totenhagen) 06:04 min
4) Fairy Tales (Text: Shu Ting, Komposition: Laura Totenhagen) 06:49 min
5) A Man In His Life Has No Time (Text: Yehuda Amichai, Komposition: Laura Totenhagen) 03:19 min
6) Sigh No More (Text: William Shakespeare, Komposition: Laura Totenhagen) 05:31 min
7) To The Oak (Text: Shu Ting, Komposition: Laura Totenhagen) 03:45 min
8) Ode To A Goat (Text und Komposition: Laura Totenhagen) 04:36 min
9) Noabo (Text und Komposition: Laura Totenhagen) 02:53 min
Gesamtlänge: 42:50 min
Aufnahme im Loft Köln mit Christian Heck 24.8. und 25.8.2018
Mixing im Tonart Studio in Kerpen-Horrem mit Christian Heck 8.10.2018 und 9.10.2018
Mastering von Nate Wood im Juli 2019, Brooklyn, New York
Fotograf: Andreas Wißkirchen
Layout & Design: Qimeng Sun
www.lauratotenhagen.de
https://www.facebook.com/totenhagen/
https://www.instagram.com/lauratotenhagen/
Release-Konzert in Köln: 22.10.2019 im Loft Köln (https://bit.ly/2ksIitj)
Weitere Release-Konzerte unter: http://lauratotenhagen.de/concerts/