Es gibt viele Beschreibungen für Oliver Potratz. Er ist seit mehr als zwei Jahrzehnten einer der vielseitigsten Bassisten der deutschen Jazz-Szene. Er ist eine musikalische Allzweckwaffe, die sich ebenso uneigennützig wie uneitel in jeden Kontext einfinden, ihm die nötige Dringlichkeit und den entscheidenden Schliff verpasst. Er ist ein Musiker, der stets über sein Instrument hinaus denkt und ausnahmslos das gesamte Ensemble im Kopf hat, in das er eingebunden ist. Er besetzt so viele Flecken in der deutschen Musiklandschaft, dass man ihn unmöglich singulär verorten kann. Er strahlt eine positive Kraft aus, deren hundertprozentige Verlässlichkeit konzentrische Kreise in der europäischen Musikwelt zieht. Er ist ein Allrounder, der von der Ausgangsbasis Jazz nach Bedarf in jede andere denkbare Richtung ausschwärmen kann. Ja, all diese Beschreibungen treffen ohne Einschränkung zu, und doch sagt jede für sich genauso zu wenig wie die Gesamtheit all dieser Attribute. Denn Oliver Potratz ist Oliver Potratz.
Dieser Satz mag banal klingen, aber auf seinem neuen Album „This Is Not My Dog“ legt der Berliner eine Haltung, Ästhetik und Sprache an den Tag, die sich mit einfachen Sätzen nicht ohne weiteres greifen lässt. Die Balance aus der Ganzheitlichkeit des Albums und der künstlerischen Eigenständigkeit jeder einzelnen Komposition macht aus dem Album eine Art Selbstporträt eines Künstlers, das Nähe, Zugänglichkeit und Respekt vor dem Hörer verspricht. Die Formen mögen sich von Track zu Track ändern, die Sprache bleibt jedoch immer dieselbe. Man darf diese Platte gern als Einladung verstehen, die ganz unterschiedliche Türen öffnet. Mal rockt Potratz’ Band wie die Hölle, dann gibt sie sich kollektiven Improvisationsläufen hin, sprintet halsbrecherisch über avantgardistisches Terrain oder setzt ein Mosaik aus historischen Wortfetzen zusammen. Das Abstrakte ist ebenso präsent wie das Vertraute.
Für dieses Album umgibt sich Oliver Potratz mit einem furiosen Kollektiv. Den Grundton geben die beiden Gitarristen Daniel Bodvarson und John Schröder an. Schröder ist der Mann für die melodischen Attacken und großen Gesten, während der Isländer Bodvarson sich eher in Sounds und Texturen vergräbt. Ihr Zusammenspiel erinnert zuweilen an die E-Gitarrensinfonien eines Glenn Branca oder an die Doppelgitarrenfront von Sonic Youth. Saxofonist Philipp Gropper mutet mit seinem distinguiert offensiven Sound beinahe wie ein dritter Gitarrist an. Trotz ihrer unterschiedlichen Sounds und Register verschmelzen Gitarren und Saxofon zu einer allumfassenden Gesamtschwingung. Dabei scheint es kaum eine Rolle zu spielen, auf welchem Weg der jeweilige Sound zustande kommt. Wichtig ist immer der gemeinsame Impuls. Drummer Christian Marien ist wie Potratz ein musikalischer Tausendfüßler, der sich über jeglichen Kanon hinwegsetzt und mit rhythmischer Urgewalt den Motor anwirft. Zwischen all diesen Komponenten vermittelt Potratz auf seinem elektrischen Bass. Er agiert wie ein Hypnotiseur, der seine Mitspieler unaufdringlich in den Bann seiner Ideen zieht und diese Magie auf die Hörer überträgt.
Einen Beipackzettel zum Hören von „This Is Not My Dog“ gibt es nicht und kann es nicht geben. Oliver Potratz ist ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler. Er stattet seine Songs mit Kulissen, Darstellern, einer Dramaturgie und selbstredend einem Soundtrack aus, überlässt es aber dem Hörer, seinen jeweils eigenen Narrativ zu finden. Trotzdem sind es durchaus persönliche Themen, Beobachtungen aus seiner Umgebung, Reflexionen zur aktuellen gesellschaftlichen Befindlichkeit und selbst ein immer noch brisantes historisches Motiv, die Potratz zu seinen Geschichten anstiften. Einiges lässt sich aus den Songtiteln ableiten, anderes darf offenbleiben. Aber es spricht für sich, dass Potratz nach mehr als 70 Beteiligungen an Alben als Sideman, Co-Leader, Komponist oder Produzent ausgerechnet jetzt das Bedürfnis verspürt, mit einem Album unter eigenem Namen zu debütieren.
Ein zentrales Motiv für Oliver Potratz ist der elektrische Bass. In den zurückliegenden Jahren ist er fast ausschließlich als Kontrabassist wahrgenommen worden. Nachdem er aber vor einigen Jahren die Band Rage Against The Machine wiederentdeckt hatte, verspürte er die unbändige Lust, ausgiebig in elektrischen Gitarren zu baden. Er bekennt, dass er mit dem Feuer spielen wollte. Ursprünglich vom E-Bass kommend, zündete das Gitarrenfeuerwerk seiner Band in ihm wiederum den Entschluss, zu diesem seinerseits etwas vernachlässigten Instrument zurückzukehren. Leise mit dem Bogen gestrichene Bassparts sucht man auf „This Is Not My Dog“ vergeblich. Damit schwört Potratz dem Kontrabass nicht etwa ab, sondern verhilft einer alten Liebe zu einem neuen Ausbruch.
In diesem Sinne darf auch der Albumtitel verstanden werden. Oliver Potratz hat in sich den Hund entdeckt, den er nicht unter Kontrolle halten kann. Er verweist auf das Unbestimmbare und Unbezwingbare in sich selbst, das er weder zur Raison bringen kann noch will. Eine unkalkulierte, ebenso individuelle wie kollektive Entfesselung, die durch nichts in der Welt aufgehalten werden kann.
„This Is Not My Dog“ will in seiner kompletten Vielfalt nicht erzählt, sondern gehört werden. Am besten trifft es Oliver Potratz selbst, wenn er postuliert: „Wenn du eine Skulptur nur von einer Seite betrachtest, meinst du vielleicht zu erkennen, was es ist. Auf der Rückseite kann sie aber ganz anders aussehen. Erst wenn du sie von allen Seiten betrachtest, wirst du sie voll erfassen. Musik ist mein Lebensinhalt. Um ein komplettes Bild von meiner Musik vermitteln zu können, muss ich mich frei machen und frei bewegen können.“
Philipp Gropper Saxophon
Daniel Bödvarsson Gitarre
John Schröder Gitarre
Christian Marien Schlagzeug
Oliver Potratz E-Bass
1. All in 5:52
2. Worklife Balance 6:32
3. Hundekälte: 7:16
4. A Song for Paul Robeson 9:33
5. Windeln und Fisch, Krisen und Utopien 3:48
6. Dog 4 6:41
7. Wir sind die Kleinauflagenspezialisten 7:41
8. Android Body Extension 6:08
Aufgenommen, gemischt und gemastert 03/2018 in Berlin von Tito Knapp,
www.oliver-potratz.de